Improvisation und Addizio!

Das Thema Improvisation im Instrumentalunterricht wird nach meiner Beobachtung mit zwei unterschiedlichen Zielvorstellungen diskutiert. Zum einen ist da die der Jazzmusiker (zu denen ich selbst gehöre): Improvisation ist eine erlernbare Fähigkeit, sie orientiert sich dabei an unterschiedlichen vorhandenen Stilen und musikalischen Materialien. Ähnlich wie beim Lernen einer Fremdsprache sollen Schüler in der Lage sein, sich möglichst „akzentfrei“ im Blues, Rock, Bebop oder Pop mit ihren musikalischen Ideen zu bewegen. Eine andere Denkweise von Improvisation im Unterricht kommt aus der Schulmusik, dazu unten mehr.

Improvisation als inhaltsbezogene Kompetenz

Zur Jazzimprovisation etwa gibt es eine umfangreiche Pädagogik, mit vielen Publikationen und üblichen Herangehensweisen. Diese Vorstellungen sind in Addizio! zum Beispiel mit den ausnotierten Solos und der Bluestonleiter in Nr. 34 „Soul City Blues“ abgebildet. Die verschiedenen populären Stile finden sich auch in den unterschiedlichen Spielsätzen wieder. Entsprechend erfahrene Lehrkräfte sehen dabei sofort, dass

  • 21 „Beats“ an das Erfinden von einfachen Fills heranführen kann
  • 23 „Almeria“ sich um ein Solo in D-Phrygisch (parallel zu B-Dur) oder sogar D-Flamenco (phrygisch mit großer Terz, im Beispiel d-es-fis-g-a-b-c-d) erweitern lässt
  • die Kadenz von 28 „Minimal“ perfekt zur B-Dur-Pentatonik (b-c-d-f-g-b) passt
  • 30 „Get That Jazz“ sich um Solos in d-moll-Pentatonik (d-f-g-a-c-d) erweitern lässt
  • zu 31 „Basic Blues“ ein Solo in B-Blues (b-des-es-e-f-as-b) gehört
  • 38 „Trinidad“ mit Melodien in B-Dur Pentatonik (b-c-d-f-g-b) erweitert werden kann
  • 40 „I Like The Flowers“ um ein Zwischenspiel mit einer Schülerimprovisation in der F-Dur Pentatonik (f-g-a-c-d-f) ergänzt werden kann
  • 43 „Montuno“ Teil A als Begleitung zu einem Solo in c-moll Pentatonik (c-es-f-g-b-c) bzw. C-Blues (c-es-f-fis-g-b-c) passt
  • 45 „Berlin Radio Song“ einen Austausch der Melodie gegen ein Solo in F-Dur Pentatonik (f-g-a-c-d-f) zulässt.

In diesem Verständnis ist die Improvisation eine inhaltsbezogene Kompetenz (siehe Lehrerhandbuch Addizio! S. 35), das stilrichte Improvisieren wird dem Feld „Aktives Gestalten“ zugerechnet. Naturgemäß nehmen die vielen Tonleitern, die Phrasierungsregeln der unterschiedlichen Stile, der sinnvolle motivische Aufbau einer Improvisation dann einen erheblichen Raum im Unterricht ein. Nach meiner Erfahrung sind nicht alle Schüler bereit, diesen aufwändigen Weg mitzugehen, der ohne zielgerichtete Übung nicht auskommt.

Wenn Sie als Anwender von Addizio! die vielen Möglichkeiten zum Einbau von Improvisationen bisher nicht erkannt haben, sind Sie vermutlich klassisch oder schulmusikalisch ausgebildet.

Improvisation als prozessbezogene Kompetenz

Improvisation als eine wichtige Umgangsweise im schulischen Musikunterricht beschrieb der Musikpädagoge Dankmar Venus 1969 (vgl. Werner Jank „Musikdidaktik“). Es ging damals um eine Ablösung des „Primat des Singens“, das bisher die Schulmusik dominierte. In diesem Verständnis, das bis heute fortwirkt, ist das Improvisieren eine von mehreren Umgangsweisen, mit der man sich musikalische Inhalte erschließen kann.

Improvisation ist dann nicht das eigentliche Ziel, sondern eine Methode zum Aufbau von musikalischer Bildung. Bestimmte Rhythmen könnten improvisierend erforscht werden, oder der Ausdrucksgehalt eines bestimmten Musikstückes könnte zum Beispiel mit Improvisationen auf Orff-Instrumenten oder im Tanz nachempfunden werden.

Schulmusikern ist diese methodische Anwendung von Improvisation bekannt. Sie folgt dann einem Verständnisziel, es geht nicht um die produzierte Musik selbst, sondern um ein Verständnis oder Erfahrung von bestimmten Aspekten einer Musik durch Improvisation. In meinem Kompetenzmodell (Lehrerhandbuch S. 34) könnte man solche Improvisationen zum Beispiel der prozessbezogenen Übekompetenz zuordnen: Mithilfe der Improvisation würden dann die technischen Möglichkeiten des Instrumentes, eine Tonleiter oder eine bestimmten Artikulationsweise geübt. Oder in einer Gruppenimprovisation werden dann Interaktionsprozesse im Ensemble erprobt.

Beide Denkweisen haben ihre Berechtigung. Allerdings sollten sich Lehrkräfte darüber im Klaren sein, zu welchem Zweck und mit welchem Ziel sie Improvisation im Unterricht nutzen. Gerade dieses Lernfeld kann nach meiner Erfahrung gelegentlich viel Unterrichtszeit verbrauchen, ohne substanzielle Ergebnisse greifbar werden. Es ist nach meiner Auffassung auch mit den Schülern zu verhandeln, ob sie das Improvisieren mit allem, was zum Beispiel die Jazzpädagogik zu bieten hat, erlernen wollen oder ob sie das Improvisieren als eine von mehreren Umgangsweisen nutzen, um sich mehr mit anderen Schwerpunkten der Instrumentalausbildung zu befassen.